So paradox es klingen mag: Ganz oft sind wir während sexuellen Aktivitäten nicht mit unseren Körpern verbunden. Weder mit unserem Becken noch mit unserem Herzen. Und das, während dies zwei Bereiche sind, die unsere sexuelle Erfahrung überhaupt erst richtig erfüllend und juicy machen. Vorab ein paar Worte zur grundsätzlichen weit verbreiteten körperlichen Abwesenheit beim Sex.
Sex ohne Körperanbindung
Für viele Menschen spielt sich Sex tatsächlich im Kopf und nicht im Körper ab. Das kann auf offensichtliche Weise passieren, wenn wir uns während eines sexuellen Akts mit unserer Aufmerksamkeit in Fantasien befinden. Oder auch auf eine subtilere Art, wenn wir eine Berührung kurz wahrnehmen, in gut (=erregend) oder schlecht (=nicht erregend) einteilen und dann sofort beim nächsten Schritt sind. Und zwar da, wo unser Verstand denkt, wo die Empfindung hingehen soll. Ohne das als falsch zu beurteilen, ist das Ergebnis davon, dass wir nicht im Moment und nicht in unserer vollen Körperempfindung sind.
Gründe für unsere sexuelle Abwesenheit
1. Viele Menschen dürfen es erst wieder lernen, wie Erregung aus ihrem eigenen Körper heraus entsteht. Sie bauen ihre Erregung auf äusseren Bildern auf, geprägt von Pornographie, unserer einseitig sexualisierten Film- und Werbeindustrie und der Orientierung an ihrem sozialen Umfeld. Darauf, “was halt heiss und sexy ist“ und nicht darauf, was sie ganz individuell als heiss und sexy empfinden. Unsere Vorstellungen haben einen starken Einfluss auf unsere körperlichen Empfindungen, deshalb ist es möglich, grösstenteils aufgrund von unseren Gedanken in die Lust zu kommen. Viele Menschen nutzen dies und für viele besteht ihre komplette sexuelle Erfahrung daraus. Auch in meiner Sichtweise können Fantasien ein großartiges Werkzeug und Spielzeug in der Sexualität sein. Wenn sie jedoch der einzige Weg in die Lust sind, entgeht den betroffenen Menschen meiner Meinung nach ein grosses Spektrum an wunderschönen Erfahrungsmöglichkeiten. Auf eine solche Erweiterung zielt dieser Artikel ab, nicht auf die Ablehnung sexueller Fantasien.
Wenn wir es gewohnt sind, unsere Lust auf Vorstellungen aufzubauen, dann spüren wir unsere Vorstellungen mehr als das, was tatsächlich im Körper abgeht. Es kann vorkommen, dass wir beim Sex unsere schon etwas wunden Genitalien nicht mehr wahrnehmen, weil wir so sehr in der Szenerie der heissen Sexgöttin, die mitten auf einer grossen Bühne von mehreren Menschen begehrt und stimuliert wird, aufgehen. Erst nach dem Sex bemerken wir dann die Schmerzen in unserer Vagina. Gleiches gilt übrigens für den Penis, der auch oft überstimuliert wird.
Es passiert oft, dass Menschen, die normalerweise beim Sex fantasieren, ohne ihre Bilder nicht erregt werden. Wenn sie tatsächlich präsent in ihrer Körperwahrnehmung ankommen, ist das, was sie da fühlen, oft sehr frustrierend. Der Weg in die Körperwahrnehmung überhaupt und die Heilung dessen, was da ist, ist mitunter anstrengend. Daher ziehen es viele vor, wieder in die kontrollierbare Gedankenwelt abzudriften.
2. Ein anderer Grund, der dazu führen kann, dass wir unsere Aufmerksamkeit aus unserem Körper wegziehen, sind Schmerzen. Anstatt präsent zu bleiben, die Schmerzen wahrzunehmen und entweder einen Heilungsraum für sie zu eröffnen oder etwas an der Situation zu verändern, flüchten wir in Gedankenwelten. Das können wie oben Fantasiewelten sein, das können aber auch Alltagsgedanken sein oder Frustgedanken, im Sinne von: «Wann ist das endlich vorbei?».
3. Überraschenderweise können sogar körperliche Lustempfindungen in unseren Genitalien dazu führen, dass wir uns mit unserer Aufmerksamkeit weit von unserem Becken entfernen. Dies wurde mir erst kürzlich bewusst. Und es macht auch völlig Sinn.
Bei Frauen* ist es so, dass wir kollektiv einen weiten Weg gehen müssen, um richtig zu unserer Wollust stehen und diese offen zeigen zu können. Und zwar nicht die konditionierte Lust der sexy Frau aus den Pornos, sondern unsere echte, verletzliche, authentische Lust. Die Lust, die wir selbst nicht kontrollieren können und bei der wir nicht wissen, was für ein Mensch da nachher dabei herauskommt. Wenn sich diese Lust in unserem Becken zu bewegen beginnt, dann kann das aufgrund unserer antrainierten Scham und Angepasstheit leicht dazu führen, dass wir abdriften, um diesen unbekannten und in unseren Systemen oft als gefährlich abgespeicherten Raum nicht zu betreten.
Auch die Männer* wollen sich nicht mit ihrer authentischen Sexualität zeigen oder identifizieren. Sie haben Angst oder fühlen Scham, der ihnen eingetrichterten Täterschaft zu begegnen. Der Kraft, die sich so unkontrollierbar anfühlt und verletzten könnte, wenn kein Gegenüber da ist, um dieser Kraft zu begegnen.
Wir haben noch keine Erfahrungen gemacht, dass unsere Kraft gehalten werden kann, und nicht abgelehnt wird. Dass wir sie selbst halten und ihr mit Liebe und Mitgefühl begegnen können. Unsere Eltern haben sie abgelehnt. 'Sei nicht zu viel', 'Ich halte dich nicht aus, schraub deine Intensität zurück', 'Komm nicht mit deinen Gefühlen, sei nicht kompliziert, halte deine Wahrheit zurück.' Diese subtilen Aussagen, die nicht immer verbal ausgedrückt werden, fallen alle in die Abwertung unserer authentischen Sexualität. Und all diese bringen uns dazu, abzuhauen, wenn wir beim Sex mit dieser Kraft in Verbindung kommen.
Unsere authentische Sexualität ist dynamisch heilend, akzeptiert nur Wahrheit, versteht nur absolute Lebendigkeit, will diese leben und fordert sie auch von der Umgebung. Die authentisch männliche Sexualität ist eine Urkraft, welche, wenn sie wirklich ausbricht, die Welt verändert, für absolute Wahrheit und Lebendigkeit kämpft. Genau wie die weibliche Sexualität absolute Liebe und tiefe Verbindung, tiefe Selbstanbindung fordert.
Und da wir kollektiv noch nicht an dem Punkt sind, der Raum für all diesen Ausdruck hat, schrauben wir ihn automatisch noch zurück.
Ich plädiere für voll verkörperte Sexualität
Unsere sexuelle Erfahrung verändert sich um 180 Grad, wenn wir uns darin üben, in die volle Verkörperung zu kommen. Wir folgen dann keinem Schema X mehr, welches uns von der Gesellschaft als Sex verkauft wird. Sondern wir fangen an zu spüren, dass unser Körper und unsere Sexualität eine ganz eigene Sprache sprechen, ganz eigene Wege gehen und uns wundervolle Tore öffnen, wenn wir ihnen zuhören. Wir erfahren, dass wir in Zustände des Genusses und Glücks kommen können, alleine oder auch mit anderen, wo es keine Rolle mehr für unsere sexuelle Erfüllung spielt, ob wir in hohe Erregung und zu Orgasmen kommen oder nicht. Die Sexualität beginnt uns auf ganz anderen Ebenen zu nähren. Auf mystischen Ebenen, die unserer Körperweisheit vorbehalten sind, welche unser Verstand weder erschaffen noch kontrollieren kann. Um in diese vorzudringen, ist unser Herz von ganz zentraler Bedeutung.
Sexualität und Liebe
Für eine erfüllte Sexualität ist Liebe meiner Ansicht nach eine Grundvoraussetzung. Das bedeutet nicht, dass ich den anderen Menschen heiraten oder irgendein zeitliches oder materielles Commitment mit ihm eingehen muss. Ich kann einen anderen Menschen für ein paar Stunden innig lieben und mit ihm körperlich verschmelzen und ihn danach wieder komplett loslassen.
Wenn sich die Sexualität im Becken abspielt (sogar wenn sie da voll verkörpert ist) und nicht mit dem Herzen verbunden ist, so kann das eine heisse Erfahrung sein, die aufregend ist. Doch ich behaupte, dass diese vielmehr Bilder und Projektionen in uns befriedigt, als unser Herz und unsere tiefe Sehnsucht in der Sexualität.
Das mag den einen vielleicht etwas radikal oder einseitig erscheinen, daher vorweg: mit dem Herzen verbundener Sex ist nicht zwangsläufig ruhig, langsam und nur ganz zärtlich. Der kann durchaus wild, ekstatisch und geil sein. Der Unterschied ist, dass diese Qualitäten dann auf einen ganz anderen Nährboden fallen, weil sie in einem Raum tiefer Verbindung geschehen. Und da dies etwas was, wonach wir alle uns sehnen, erhöht sich mit der Erfüllung dessen die Ekstase und Wollust noch um ein Vielfaches.
Nun aber nochmals zurück zum Anfang: Liebe ist Grundvoraussetzung für erfüllte Sexualität. Und ich setze die beiden auch in eine klare Hierarchie. Die Liebe steht an höchster Stelle, die Sexualität in ihrem Dienst. Denn sexuelle Energie an sich hat keine klar definierte Richtung. Sie ist pure Lebenskraft, unglaublich viel Energie, die sowohl destruktiv als auch konstruktiv eingesetzt werden kann. Sie kann alles heilen und alles zerstören. Momentan wissen leider die meisten Menschen nicht, wie wir sie wirklich zum Wohle kanalisieren können und darum richtet sie noch viel Leid auf der Erde an. Doch wenn die sexuelle Kraft ganz klar dafür eingesetzt wird, Liebe auszudrücken, Liebe zu erschaffen und zu vermehren, dann kann sie alles transformieren.
Die Trennung von Genitalien und Herz
Auch wenn verkörperte sexuelle Erfahrung sich im ganzen Körper abspielt, sind die beiden Zentren, welche fürs Hervorbringen und Bewegen der sexuellen Energie am wichtigsten sind, das Becken und das Herz. Bei der Mehrheit der Menschen ist die Verbindung zwischen den Genitalien und dem Herzen nicht völlig frei und intakt. Es braucht oft das Durchleben von Schichten von Emotionen und Schmerzen, um sie wieder freizulegen.
Gerade bei Frauen* sind die Glaubenssätze «Liebe existiert nur ohne heissen Sex» und «Lust gibt’s nur ohne Liebe» weit verbreitet. Das ist auch einer der Gründe, warum wir als Singles in sexuellen Begegnungen mit viel Freude aufgehen können und die Lust sich ausschaltet, sobald wir wieder in einer festen Beziehung sind, wo unser Herz in einer bestimmten Tiefe berührt wird. Das Gegenstück bei als Männer sozialisierten Menschen ist, dass Gefühlte nichts mit Sex zu tun haben dürfen und dass sie Menschen, welche sie wirklich lieben, vor ihrer sexuellen Kraft schonen müssen.
Doch Gefühle und Sex und Lust und Liebe sind unglaublich eng miteinander verbunden und bereichern sich gegenseitig. Wenn wir diese Ebene wieder integrieren können, wird unsere sexuelle Erfahrung viel farbiger und vielseitiger werden.
Darum rege ich sehr dazu an, die Verbindung zwischen unserem Herzen und unseren Genitalien wieder herzustellen.
Wie lege ich die Becken-Herz-Verbindung wieder frei?
Das Wichtigste, was es dazu braucht, ist Mut. Denn die Öffnung dieses Kanals ist vor allem von alten Mustern und Emotionen blockiert. Den Mut zu haben, diese zu erkennen, zu fühlen und uns dafür zu entscheiden, sie loszulassen, ist das, was die Verbindung wieder herstellt. Und das hat auch Konsequenzen in einer Veränderung unseres Verhaltens, was wiederum Mut braucht. Und sich auf jeden Fall lohnt.
Hier eine nicht abschliessende Liste von Themen, die deine Becken-Herz-Verbindung blockieren könnten:
- Angst davor, deine wahren, jetzt präsenten Gefühle zu fühlen und zu zeigen
- Angst davor, Stopp zu sagen, um dein Gegenüber nicht zu verletzten oder zu verlieren
- Druck, einem sexuellen Bild entsprechen zu müssen
- Scham, in deiner Lust gesehen zu werden bzw. dich selbst darin zu erleben
- Angst, deine echten Wünsche und Bedürfnisse in Kontakt zu bringen und dafür abgelehnt zu werden
- Angst, mit deiner sexuellen Kraft zu viel/gefährlich zu sein und zu verletzen
- Deine Abwertung deiner ureigenen Sexualität, d.h. dessen, was Sexualität für dich bedeutet und deines authentischer Ausdrucks davon
- Ungefühlte Schmerzen, Wut, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Frustration aus alten Erfahrungen, wo du nicht für dich eingestanden bist oder andere deine Grenzen überschritten und dich nicht ernst genommen haben
Das wirkt vielleicht erst mal dunkel und vielleicht auch überfordernd. Wie gesagt, es braucht Mut, durch diese Themen hindurchzugehen. Doch das, was danach entsteht, ist um ein Vielfaches heller als das, was jetzt ist. Denn ob wir hinschauen oder nicht ändert nichts an der Tatsache, dass diese Anteile in und durch uns leben.
In einem nächsten Artikel werde ich Schritt für Schritt darauf eingehen, wie sexuelle Heilung geschieht und wie wir in immer mehr Verkörperung finden können. Diese Liste sehe ich als eine erste Inspiration und Orientierung, wie du mit dir selbst auf eine Öffnungsreise gehen kannst, indem du dich ehrlich dem zuwendest, was in dir davon resoniert und es körperlich und emotional durch dich und aus dir herausfliessen lässt. Es ist immer hilfreich, bei solchen Prozessen begleitet und bezeugt zu werden, deshalb rate ich, einen Menschen deines Vertrauens einzuweihen und die Reise gemeinsam anzutreten oder es in einem therapeutischen Setting zu bearbeiten.
Fazit: Alles was es braucht sind Verkörperung und Liebe
Auch wenn der Weg dahin uns in viele Höhen und Tiefen befördern kann, so ist die Zusammenfassung dieses Artikels kurz.
Das sind meiner Ansicht nach die Grundzutaten für eine gesunde Sexualität: Verkörperung und Liebe. Und dann könnt ihr eure Sexualität mit allen Fantasien, Praktiken und Experimenten ausfüllen und sie wird zum Wohle eurer Körper, eurer Herzen und des kollektiven sexuellen Feldes auf der Erde wirken.
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